Am 2.Oktober 2014 hat sich das Bundesverwaltungsgericht zur Zulässigkeit der 9. Elbvertiefung geäußert. Das Planfeststellungsverfahren ist mit Mängeln der FFH- und Umweltverträglichkeitsprüfung aufgefallen und wegen offener Auslegungsfragen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie einstweilen ausgesetzt.
Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob die Elbvertiefung sachlich geboten ist und einen volkswirtschaftlich sinnvollen Infrastruktureingriff (im Sinne der Stärkung des Hafenstandorts) darstellt. Daran kann man zweifeln, zumal die gegenwärtigen Trends im Containerschiffbau nicht nur im Tiefgang, sondern auch mit Länge (Drehkreis im Hafen), Breite (Begegnungsmöglichkeit im Fahrwasser) und Höhe (Köhlbrandbrücke) an Grenzen stoßen.
Man kann auch die Nachhaltigkeit des Vorhabens bestreiten und in Anbetracht der Kosten ins Grübeln geraten, wenn sowohl Hamburg, Niedersachsen (Wilhelmshaven) als auch Bremen (Bremerhaven) hier die gleiche Strategie verfolgen: Mit (Bundes-)Steuergeldern Tiefwasserumschlagplätze und -zufahrten zu bauen, zu erweitern und dauerhaft unterhalten zu wollen. Das erscheint strategisch nicht sehr ausgefeilt, aber Föderalismus bedeutet auch das Respektieren dezentraler Entscheidungen und die Zulassung von Standortkonkurrenz, so dass auch eine gelegentliche Lösungseinfalt ertragen werden muss.
Es gibt da gute Gründe, der Elbvertiefung mit Skepsis zu begegnen. Dieser Beitrag aber ist ein Plädoyer dafür, sich dabei nicht den falschen Argumenten zu bedienen.
Im Grundsatz ist die Morphodynamik vom Tidegewässern ein ziemlich interessantes Forschungsgebiet. Durch die Publikationen und durch das Verfolgen der wissenschaftlichen Veranstaltungen der Bundesanstalt für Wasserbau lässt sich auch der Eindruck gewinnen, dass man hier in Bezug auf Einschätzungen der Ausbauwirkungen durchaus seriös vorgeht. Die heute üblichen, an der Realität kalibrierten dreidimensionalen numerischen Modelle ermöglichen Beachtliches in Simulation und Prognose. Die Herrschaften haben Zugriff auf umfangreiche Messdaten und besitzen langjährige empirische Erfahrung im Strombau (aus dessen Fehlschlägen sie im Idealfall zu lernen imstande sind). Der wasserbaulichen Planung und dem methodischen Inventar konnte man zumindest keine Oberflächlichkeit nachsagen.
Beispielweise war das Problem des Tideniedrigwasser-Absunks in Hamburg explizit adressiert, der im Zuge der Strombaumaßnahmen der letzten fünfzig Jahre entstanden und in seinen dauerhaften Konsequenzen sicherlich unterschätzt worden ist: Der steile Flutast der Tidekurve ist es, der schließlich zu dem stromauf gerichteten Nettotransport von Sedimenten und in das Verderben (dem permanenten Unterhaltungsbedarf und dem latenten Baggerkreislauf, der erhöhten Trübung, der Auflandung und Verschlickung der Nebengewässer) führt, zumindest aber dessen Eintreten stark begünstigt. Die Planung einer Dämpfung der einschwingenden Tideenergie durch eine Unterwasserablagerungsfläche in der Medemrinne als Drossel und Kompensationsmaßnahme ist eine im Grundsatz charmante Idee. Das ist eine technische Lösung, was aber nicht verwundert, denn Wasserbauingenieure sehen in ihrem Beruf einen Gestaltungsauftrag und keine Bewahrungsaufgabe. Zugegeben: Angesichts der Dynamik des Mündungstrichters kann man die Dauerhaftigkeit eines Eingriffs in der Medemrinne auch bezweifeln und als Hybris verwerfen.
Für den Anhänger eines naturwissenschaftlich orientierten, aufgeklärten Weltbilds, der sich bewusst ist, nicht in der Natur, sondern einer Kulturlandschaft und in einer Anforderungen stellenden technischen Zivilisation zu leben, ist die Idee einer Elbvertiefung nicht extrem problematisch. So kann man sich damit trösten, dass die grössten Sünden schon längst begangen worden sind – und es nicht mehr entscheidend ist, ob die Elbe nun dreizehneinhalb oder vierzehneinhalb Meter tief ist. Der Ausgangspunkt ist nicht mehr die Elbe der Fünfziger Jahre mit einem Tidenhub von zweieinhalb Metern. Zugegeben: Das Schicksal der Ems gemahnt in diesem Zusammenhang zur Vorsicht.
Natürlich wird die Brackwasserzone etwas weiter bergauf wandern, aber deren aktuelle Lage ist primär vom Oberwasserabfluss determiniert und schwankt im typischen Jahreslauf erheblich. Die Anpassungsfähigkeit der in dieser Zone lebenden Lebewesen bleibt ohnehin gefordert und beschränkt sich nicht nur auf trockene Sommer. Der Obstbau in Kehdingen hat berechtigte entgegenlaufende Interessen, die aber ebenfalls menschengemacht und wirtschaftlichen Ursprungs sind.
Aus juristischer Sicht ist die Existenz einer Verwaltungsgerichtsbarkeit ein hoch zu schätzendes konstitutives Element des Rechtsstaates, und dieses soll an dieser Stelle nicht durch billige Kommentare zum Für und Wider der Verbandsklagemöglichkeit im Naturschutzrecht relativiert werden. Aber an der noch unklaren juristischen Auslegung der Wasserrahmenrichtlinie und dessen Verschlechterungsverbot ist der Staat nun – nach immerhin zehn Jahren der inkrementell verfeinerten Planung und dem Genehmigungsprozeß – mit den selbst gestellten formalen Hürden einstweilen gescheitert. Angesichts der prognostizierten marginalen Auswirkungen der Elbvertiefung – man kann hier hilfsweise den Abschlussbericht zu den ausbaubedingten Wirkungen der Fahrrinnenanpassung 1999/2000 zu Hilfe nehmen – ist dies ein eher verstörendes Ergebnis. Der gutachterliche Aufwand wird also in einer neuen Runde weiter steigen. Die Zivilisationskritiker nimmt dies achselzuckend als Wesensmerkmal reifer Gesellschaften hin.
Mehrere Anmerkungen drängen sich auch zur naturschutzfachlichen Ebene auf. Erstens ist der negative Einfluss anthropogenen Handelns auf die allgemeine Biodiversität so umfassend wie dramatisch, dass die bisherige Fokussierung der Planfeststellung auf einige mittelbar Betroffene der Ausbaumaßnahme (der Schierlings-Wasserfenchel, der Wachtelkönig und der afrosibirische Knutt) teils verengend, teils auch etwas willkürlich wirkt. Das Vertrauen in Kompensationsmaßnahmen ist aber ungebrochen – dies verwundert, denn es gibt Negativbeispiele. Und auch auf möglichen Ausgleichsflächen werden Organismen mit eingeschränkter Anpassungsfähigkeit evolutionär benachteiligt bleiben und womöglich trotz hohen Aufwands nicht dauerhaft zu halten sein, während Neophyten und Neozoen, die – durch Nebeneffekte zivilisatorischer Mobilität oder anderen menschlichen Leichtsinn verbreitet – bereits ihre Überlegenheit in dieser Hinsicht unter Beweis stellen konnten. Und ein etwas langfristigerer Blick auf die Entstehungsgeschichte der Küste und den autonom ablaufenden, durchaus auch spektakulär zu nennenden Veränderungen dieses Lebensraumes – schließlich sind die Marcellusfluten nicht lange her, und auch die letzte Eiszeit und ein um einhundert Meter tiefer liegender Meeresspiegel ist erdgeschichtlich erst seit kurzem vorbei – lehrt da Gelassenheit.
Zu beobachten war in der Auseinandersetzung eben auch, dass „die Elbvertiefung“ eben für alles Mögliche verantwortlich gemacht wird. Gerade der Wassersportler hat ausreichend Gelegenheit zur mehrjährigen Beobachtung morphologischer Veränderungen oder gar der unvermittelten Erfahrung einer Untiefe. Er neigt dazu, diesen Zusammenhang herzustellen, und sieht sich durch intertemporalen Vergleich von Seekarten und deren Tiefenlinien in dieser Auffassung bestätigt.
Der Fluss aber ändert sich in verschiedenen Parametern sowohl autonom, aber auch in einer mittelfristigen Reaktion auf den Ausbau („morphologischer Nachlauf“); diese Änderungen wirken auf das Geschehen zurück, so dass sowohl der anteilige Nachweis von Kausalbeziehungen als auch die Identifikation eines neuen Gleichgewichtszustands mit Schwierigkeiten verbunden ist, zumal schon die Situation bei Untersuchungsbeginn nicht trendfrei gewesen sein dürfte. Das Beweissicherungsverfahren ist das eine, die korrekte ex-post-Analyse von Wirkungszusammenhängen das andere. Ein gutes Beispiel für die Dynamik des Geschehens sind gerade die Veränderungen im Mündungstrichter, die etwa 1955 mit der Bildung des Medemsandes begannen und in die Bildung eines Zweirinnensystems umschlugen, welches gerade in den letzten zwanzig Jahren immer weiter nördlich vorgedrungen ist. Im Jahre 2010 ist dann das Klotzenloch zur Medemrinne durchgebrochen und damit eine Konstellation wiedergekehrt, wie sie schon im 19. Jahrhundert vorherrschte. Sind Strombaumaßnahmen die Ursache oder ist Douglas Adams „fundamental interconnectedness of all things“ am Wirken? – Das ließe sich leichter beantworten, wenn man sämtliche Eingriffe in den Fluss unterlassen könnte.
Ein klarerer Fall liegt hingegen beim Stichwort „Gefährdung der Deichsicherheit“ vor, mit dem die Gegner der Elbvertiefung stets argumentiert haben. Ob aufrichtig gemeint oder vorgeschoben: Gerade Niedersachsen hat lange Zeit auf dieser Basis sein Einvernehmen verweigert. Dies verwundert, denn die Höhe einer Sturmflut wird von der mehr oder minder unglücklichen zeitlichen Konstellation von Tide und dem Windstau determiniert, der durch nordwestliche Winde eines Orkantiefs in der Deutschen Bucht entsteht. An Tideparametern können Mondzyklus (Springtide), Fernwellen, eine Reflektion am Ende des Ästuars, ein die Wassersäule hebender niedriger Luftdruck oder der (im Vergleich zu früher) geringere Flutraum durch fehlende Vordeichflächen und Abdämmung der Nebenflüsse erschwerend hinzukommen. Am Ende des Tages geht es um langperiodige windunterstützte (Flut-)Wellen und das windinduzierte Wasserspiegelgefälle. Die hydraulische Leistungsfähigkeit der Rinne für den Transport dieser Wassermassen ist hingegen ohnehin vorhanden, ob diese nun 13,5m, 14,5m oder – bei Sturmflut – 19m Wassertiefe aufweist, zumal mit steigendem Wasserpegel der Querschnitt steigt und der dämpfende Effekt der Sohlreibung in den Flachwasserzonen nachlässt. Daher bewegt sich der negative Effekt einer Elbvertiefung in Bezug auf die Bemessungssturmflut im Zentimeterbereich. An der Küste sollte man diese Zusammenhänge kennen. Die Konstruktion einer Bedrohung der Deichsicherheit war und ist Schüren irrationaler Ängste und damit Populismus. (F.G.)